Pasolini hat sich nicht nur, wie mancher Künstler vor ihm, mit
Christus identifiziert, sondern auch mit Ödipus, dessen freudianische
Deutung in dem autobiografisch getönten Prolog zu Edipo Re aufgerufen
wird. Beide Figuren – Christus und Ödipus – sind verbunden durch das
Motiv des sühnenden Selbstopfers. An der Ödipus-Sage faszinierte
Pasolini besonders die Unwissenheit des Helden, die seiner
Handlungsweise eine gewisse Unschuld verleihe. Eben durch seinen
Versuch, dem ihm geweissagten Schicksal zu entkommen, also die Bluttat
am eigenen Vater und eheliche Gemeinschaft mit der Mutter zu verhindern,
sorgt er für seine Erfüllung. Pasolinis mythische Filmerzählung, die
sich stellenweise eng an den Urtext des Sophokles hält, andererseits die
griechische Antike archaisierend verfremdet, markiert von Anfang an die
‚blinden‘ Momente, in denen sich die Tragödie ankündigt, vollzieht und
dabei auch als ein Bild für die Geschichte der modernen Zivilisation
lesbar wird, welche der Erlösung bedarf. Nach Pasolinis Auslegung
transformiert die Selbst-Blendung des christomorphen Ödipus (Franco
Citti) seine unwissende Blindheit in ein nunmehr erkennendes ‚blindes
Sehen‘ nach dem Vorbild des Teiresias – ein Sehen, das sich der Führung
des Volkes, verkörpert in Ninetto Davoli, überlässt und als solches die
Rolle Pasolinis als eines Intellektuellen beschreibt, dem im
zeitgenössischen Italien eine Paria-Rolle zugewiesen wird.
Ort: Kino des Deutschen Filmmuseums, Schaumainkai 41, Frankfurt.
Filmprogramm: Edipo Re, I 1967, 119 min.
Regine Prange ist Professorin für Neuere und Neueste
Kunstgeschichte, Kunst- und Medientheorie an der Goethe-Universität
Frankfurt.